Leseprobe 5

Kurzmitteilung


Fluch oder Segen?

von Kataro Nuel

Demir hat eine Besonderheit mit in die Wiege gelegt bekommen, derer er sich allerdings erst als Erwachsener bewusst wird. Wegen ihr ist er in Lebensgefahr und muss Hals über Kopf Familie und Freunde verlassen. In Österreich findet er eine neue Bleibe und einen neuen Anfang. Aber auch der Ort, den er gewählt hat, hat etwas Besonderes.

Leseprobe:

Ungeduldig ging Demir in dem engen, dunklen Kellerabteil, wo er sich die letzten Stunden versteckt hatte, hin und her. Schließlich blieb er stehen und reckte seinen Arm zu dem kleinen vergitterten Fenster empor. Im spärlichen Mondlicht begutachtete er seine Haut. Nichts war von den Verbrennungen, die er sich beim Feuer in seiner WG zugezogen hatte, zu sehen. Im Grunde müsste er tot sein. Genau wie der Typ, der das Ganze verschuldet hatte. Zum Glück konnte er Sascha, seinen Mitbewohner, noch rechtzeitig aus den Flammen retten. Noch immer konnte er nicht glauben, dass ein Fremder ihn ermorden wollte. Jedoch gab es keinen Zweifel daran, denn die letzten Worte des Mörders waren: »Im Namen von Vescona! Du bist der Letzte und musst vernichtet werden.«

Wie konnte nach einem unbeschwerten Abend mit seiner Familie nur so etwas Entsetzliches geschehen? Sein Vater hatte ihm angeboten, ihn nach Hause zu fahren. Erleichtert, dass er sich das Geld für ein Taxi sparen konnte, nahm er das Angebot daher gerne an. Beim Betreten der Wohnung beschlich ihn ein eigenartiges Gefühl. Es war dunkel, alles war still. Was Demir jedoch nicht wunderte, da er wusste, dass Sascha in seinen Lieblingsclub gehen wollte. Er schaltete das Licht ein. Sein Herz blieb fast stehen. Hinten im Gang lag Sascha nackt auf dem Boden und rührte sich nicht. Schnell lief Demir zu ihm. Erleichtert stellte er fest, dass dieser noch atmete. Er wollte sich gerade erheben, da bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Zu langsam, um zu reagieren, spürte er einen heftigen Schlag und sofort wurde es schwarz um ihn. Doch wie jede Verletzung heilte auch diese innerhalb kürzester Zeit.

Demir kam schneller wieder zu sich, als sein Angreifer damit rechnete. Als er die Augen aufschlug, registrierte er, dass er auf seinem Bett lag. Der Typ beugte sich über ihn und war dabei, ihn zu entkleiden. Es war dunkel im Raum, nur einige brennende Kerzen spendeten Licht. Noch jetzt entsetzte es ihn, wenn er daran dachte, dass dieser Typ nicht nur seinen Tod wollte, sondern auch Saschas in Kauf nahm.

Sobald der Kerl bemerkte, dass Demir wach war, richtete er sich auf und grinste auf ihn herab. Deutete auf Sascha, der neben ihm lag, und auf die Kerzen. Die musste er schon vorher angezündet haben. »Es wird wie ein Unfall aussehen. Du und dein Liebhaber seid nach dem Sex eingeschlafen. Eine Kerze hat diesen schrecklichen Brand verursacht, bei dem ihr beide umgekommen seid.«

Danach ging alles schnell. Er hob die Hand zum Wurf und rief: »Im Namen Vesconas.«

Demir reagierte blitzschnell, indem er seinen Fuß hob und dem Kerl einen kräftigen Stoß gab. Er hörte, wie sein Gegner erschrocken aufschrie, und sah ihn nach hinten taumeln, straucheln und fallen. Ein dumpfer Aufschlag und Stille trat ein. Die Kerze flog nach hinten und entzündete ein Feuer, das sich rasch ausbreitete.

Demir stand eilends auf und versuchte das Feuer zu löschen. Er gab auf, als er die Sinnlosigkeit seines Tuns bemerkte. Er ging zu Sascha, um nach ihm zu sehen. Nur kurz versuchte er ihn, durch Rütteln und einigen Schlägen auf die Wange, wach zu bekommen. Musste aber schnell einsehen, dass das hoffnungslos war. Um ihn zu tragen, war sein Mitbewohner viel zu schwer. Daher griff er nach der Decke, auf der Sascha lag, wickelte ihn so gut es ging darin ein und zog ihn samt Decke vom Bett. Demir zuckte zusammen, als er hörte, wie Saschas Kopf auf den Boden knallte, konnte es leider nicht verhindern.

Mann, war der Kerl schwer. Demir fiel es nicht leicht, ihn aus dem Zimmer in den Flur zu ziehen. Das plötzliche Klingeln an der Wohnungstür ließ ihn erschrocken innehalten. Wer konnte das um diese Uhrzeit sein? Ein Komplize seines Angreifers? Demir blieb nichts anderes übrig, als zu öffnen. Er griff nach dem erstbesten Gegenstand und riss die Tür mit Schwung auf, bereit auf einen neuen Gegner einzuschlagen.

»He, Demir, ich hab …«

»Oh, Dad, du bist es! Komm und hilf mir!« Er ließ den Gegenstand in seiner Hand fallen, packte seinen Vater am Arm und zog ihn mit zu Sascha. Währenddessen erzählte er eilig seinem Vater, was sich in den letzten Minuten abgespielt und was sein Angreifer gesagt hatte. Sobald sie Sascha in sicherer Umgebung abgelegt hatten, stürmten beide erneut in die brennende Wohnung.

Demir kniete sich zu dem Verbrecher und bemerkte, dass er aus offenen, aber toten Augen angestarrt wurde. Entsetzt sah er zu seinem Vater hoch: »Ich habe ihn umgebracht!«

»Junge, wir reden später darüber, jetzt ist keine Zeit, vor allem nicht für Vorwürfe. Mach schnell, was ich dir sage: Zieh dir was über und gib mir dann deine Brieftasche und die Schlüssel. Ach ja, deinen Ring brauch ich auch noch. Wir müssen all seine privaten Gegenstände entfernen und durch deine ersetzen. Beeil dich. Wenn sie dich für tot halten, lassen sie dich vielleicht in Ruhe.«

Jetzt verstand Demir den Sinn des Ganzen. Schnell schlüpfte er in die Kleidung, die der Kerl ihm ausgezogen hatte, und holte das Gewünschte hervor.

»Lass mich das machen«, forderte er seinen Vater auf. »Bring du die anderen Leute im Haus in Sicherheit und ruf die Feuerwehr.«

Sein Vater nickte. »Ich konnte nichts Persönliches bei ihm finden.« Bevor er jedoch den Raum verließ, drückte er Demir einen Schlüssel in die Hand. »Verstecke dich im Keller der alten Fabrik, da, wo ich den Auftrag habe Bilder zu machen. Dort bist du vorerst in Sicherheit.«

Er erhob sich und verschwand nach draußen.

Demir bekam kaum noch Luft. Die Hitze war bereits unerträglich. Daher steckte er schnell seinen Besitz in die Jackentasche des Kerls. Nur widerwillig zog er sich den Siegelring, der schon seit Generationen in Familienbesitz war, vom Finger, um ihn seinem Angreifer überzustreifen.

Da das Feuer sie bereits erreicht hatte und an der Kleidung des leblosen Körpers zu züngeln begann, zog er sich an Händen und Unterarmen starke Verbrennungen zu. Demir wusste, er musste hier raus, bevor er durch den Rauch das Bewusstsein verlieren würde. Taumelnd ging er durch den Flur, griff dort schnell noch ein Paar Schuhe, ging weiter ins Bad und stieg dort aus dem Fenster, um schließlich hier in diesem dunklen Keller zu landen.

Er hatte den Geschichten seiner Großeltern nie geglaubt, als sie ihm von seinem Ururgroßvater berichteten, der angeblich, wie er, sich selbst heilen konnte. Sicher, er hatte nie irgendwelche Verletzungen gehabt, aber das hatte er einfach darauf zurückgeführt, dass er immer vorsichtig gewesen war und einen guten Heilungsprozess hatte. Aber was er in den letzten Tagen mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte er nicht mehr verleugnen. Sobald er aus diesem Badezimmerfenster gestiegen war und die frische Luft durch seine Lungen strömte, war der Hustenreiz sofort weg. Wie durch Zauberhand lösten sich seine schmerzhaften Blasen auf und neue, narbenfreie Haut kam zum Vorschein.

Noch einmal betrachtete er im Mondlicht seine intakten Arme, bevor er zu seiner Schlafstelle ging.

Er ließ sich auf dem alten Notbett an der Wand, auf dem ein muffiges Kissen und eine Decke lagen, nieder.

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